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Meister
Pfriem
(Originaltext siehe --> Brüder Grimm,
KHM Ausgabe letzter Hand von 1857, Nr. 178,
-->
Originaltext)
Von
Beruf ist Pfriem ein Schuster: Sinnbild dafür,
daß er für die Fortschritte Anderer sorgt, "er
selbst brachte nicht viel vor sich, weil er keine Viertelstunde
ruhig sitzen blieb." Er konzentriert sich nicht auf seine Arbeit, sondern läßt sich fortwährend von außen (ab-) lenken. Er kritisiert die lachenden
Mägde am Waschfaß, stößt dann im Abgehen "einen Eimer mit Lauge um, so daß die ganze
Küche überschwemmt ward." Er ist also
nicht ganz auf dem Boden der Tatsachen, nicht im Willen. Später
schneidet er einen Schuh so weit aus, daß "fast
nichts dran ist als die Sohle." Auch das ist ein
Bild dafür, daß er den Füßen zu wenig
gönnt. Und er ist zu hochmütig, um zu erkennen,
was sich in den Niederungen der Füße bei ihm abspielt.
Erst der Lehrjunge muß ihn darauf hinweisen, daß er selbst den Schuh zugeschnitten hat.
Als
Meister Pfriem in den Himmel kommt, begegnen ihm dort Dinge,
die er auf der Erde selber macht:
1)
Sein “BALKEN IM AUGE” kommt ihm nun “in die Quere” und wird ihm dadurch
wahrnehmbar. Oder sieht er jetzt erst, daß ihm der Balken
im eigenen Auge auf der Erde immer in die Quere gekommen ist,
wenn er die Welt wahrnehmen wollte?
2)
DAS DURCHLÖCHERTE FASS
Er hat im Faß seiner Isolation gesessen und auf die
Umwelt die Pfeile und Spitzen seiner Kritik abgeschossen. Hat er damit sein "Faß" selbst durchlöchert? Daß das Wasser der Engel wieder herausläuft, kann jedenfalls heißen, daß er nicht fähig ist, die Lebenskräfte des Himmels bei sich zu behalten und nutzbringend zu verwerten; sein "Fassungsvermögen" für das "Wasser des Lebens" hat er zerstört durch seine negative Sicht der Dinge. Der Teufel lenkt die Aufmerksamkeit des Menschen immer dort hin, wo etwas falsch oder böse läuft. Und wenn der Mensch sich dann ärgert, fließen seine Kräfte dem Teufel zu.
Vielleicht hat Pfriem auch die
heile Hülle seiner Identität damit durchlöchert, daß er selbst nichts schafft, und die Welt
nun hereindrängt. Wenn ich nämlich selber nichts schaffe, wenn ich keine
Viertelstunde lang ruhig bei der Arbeit sitzen bleiben kann,
wenn ich untätig bin, so entsteht ein Hohlraum, in den die Welt
hereindrängt. Das empfinde ich als Angriff, und deshalb
will ich die Welt verändern, damit sie mich nicht mehr
ärgert. Einmal im Himmel, sieht er das Faß vor sich, in das
er sich zurückgezogen hat, und er bemerkt, daß
es durchlöchert ist. Aber die Engel gewinnen anscheinend jeder Verfehlung noch
eine gute Seite ab; Das durchlöcherte Faß ist noch zu etwas nütze: es vermittelt der Erde Regen –
sind es An-Regungen zum Wachsen? Hilfreich wirken sie, weil
sie in verwandelter Form im Schlaf von oben kommen. Untaten,
die ich am Tag begehe, können im Schlafe zu Belehrungen
und zu Motiven für ausgleichendes Handeln werden.
3)
DER WAGEN MIT DEN FROMMEN WÜNSCHEN
Pfriem möchte alles anders haben in der Welt. Damit ist
er aber nicht auf dem rechten Weg. Da er selbst wenig schafft ("….brachte nicht viel vor sich, weil er keine
Viertelstunde ruhig sitzen blieb…."), macht
er keine Fortschritte. Im Bild: sein Wagen bleibt in einer
Vertiefung stecken, sollte aber eigentlich Höhe gewinnen.
Im Schlaf erscheint der Wagen im Himmel vor dem Blick der
Engel. Die heben ihn empor
4)
aber das will Pfriem nicht als Vorbild zum Arbeiten
nehmen und wacht lieber auf, versteckt sich lieber
im Faß seines Leibes.
5)
"Ein Glück, daß ich nicht wirklich gestorben
bin!" Was heißt das? Jede Erkenntnis
wird durch einen Absterbevorgang erkauft. Im Nerven-Sinnessystem
/ Gehirn ist der wenigste Umsatz und das meiste Bewußtwein,
im Stoffwechsel ist der meiste Umsatz und (wenn der Mensch
gesund ist) das wenigste Bewußtsein. Erst wenn etwas
nicht stimmt: bei Krankheit, spüre ich den Magen oder
die Leber. Angelus Silesius: "Wer nicht stirbt, bevor
er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt." Wenn ich mich
pausbäckig durch die Welt dränge, erkenne ich nichts.
Erst wenn ich anstoße und mich zurücknehmen muß,
dann erkenne ich etwas. Pfriem aber meidet das Sterben. Nachdem
er "im Himmel war", macht er unbelehrbar auf der
Erde weiter wie vorher.
6) Dieses Märchen schildert humorvoll den Fehler, zu dem mein intellektuelles Denken neigt, nämlich das Kritisieren aller äußerlich wahrnehmbaren Unstimmigkeiten. Dabei bemerke ich nicht, was alles in mir selber nicht stimmt. Das ist eine eher männliche Eigenschaft. Vergleiche das Märchen "Das kluge Gretel" (Brüder Grimm, KHM 77), das die eher weiblichen Eigenschaften, die jeder Mensch hat, darstellt. Gretel genießt ihre Innenwelt, ihre Begierden, und benutzt ihren Verstand dazu, diese zu rechtfertigen.
(Frank
Jentzsch 19.8.2008, 19.6.2011, 30.7.2011, 1.2.2015, 16.7.2017)
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